Die «russische Kolonie» in Bern um 1900

Im Jahr 1905 lebten mehr als 700 Menschen aus dem Zarenreich in Bern, viele davon jung, weiblich und jüdisch. Die Situation im Zarenreich, aber auch die offene Haltung der Universität Bern spielten dabei eine entscheidende Rolle. Das Zarenreich hatte in den 1880er Jahren einen Numerus Clausus für jüdische Studierende eingeführt, was den Zugang zu Bildung stark beschränkte. Insbesondere jüdische Frauen und Intellektuelle suchten deshalb in der Schweiz Zuflucht, die durch ihre politische Stabilität und ihre liberalen Universitäten attraktiv war. Der bekannte Sozialist Vladimir Medem (1879‒1923) schilderte das Leben in Bern folgendermassen: «Die russische Kolonie lebte in zwei Quartieren, Länggasse und Mattenhof, die das russisch-jüdische Ghetto bildeten. In den Strassen fühlte man sich fast in ein jüdisches Schtetl zurückversetzt.» 

Porträt von Vladimir Medem (1879–1923)
Porträt von Vladimir Medem (1879–1923), Politiker, Sozialist und Mitglied des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds. Medem lebte im Exil und studierte von 1901 bis 1905 in Bern.

Die «russische Kolonie» war ausgesprochen divers, sie vereinte sowohl Akademikerinnen als auch politische Aktivisten unterschiedlichster Richtungen, etwa Bolschewiki, Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Anarchistinnen und Bundisten. 

Autorschaft: Chiara Merhi und Lionel Plüss 

Bildquelle: Archives of the Medem Library in Paris, Public domain, via Wikimedia Commons